Die Leiche


Ihren Humor hatte sie nun endgültig verloren, jetzt, da sie eine Leiche war. Da lag sie nun und schmollte vor sich hin und verstand die Welt nicht mehr. Sie war eine schöne Leiche, soweit sich das von ihrem Betrachtungswinkel aus sagen ließ. Kein zerschlagenes Gesicht, keine offenen Wunden, keine verdrehten Arme oder Beine. Nichts, was auf einen Überfall oder Unfall hätte hindeuten können. Den Schaulustigen, den Gaffern, die an ihr vorbeiliefen, konnte sie ihre Gefühle nicht mitteilen.
Aber etwas war sonderbar! Sie konnte Selbstgespräche führen. Wie war das möglich? Warum ließ ihr Geist sie nicht gehen? Es war Hochsommer und das Thermometer zeigte 35 Grad im Schatten. Männlein und Weiblein versprühten ihre Düfte. Es roch nach Liebe. Sie konnte es riechen. Der Duft war ihr nicht fremd. Es mochte noch nicht lange her sein, dass dieser Duft der Liebe sie berührt hatte. Vielleicht eine Stunde. Oder einen Tag.

Ihr Geruchssystem war noch nicht erloschen. Nach Verwesung roch es nicht. Mit detektivischem Spürsinn suchte sie nach Antworten und schaute in die Gesichter, die sich rund um sie versammelt hatten. Ihre Fragen wurden nicht beantwortet. Keiner konnte ihre Hilferufe hören. Etwas in ihr zwang sie, loszulassen. Es war ihr aber nicht möglich, dieser Stimme zu folgen. Zu sehr hing sie noch an dem Geruch des Lebens. Auf der Straße zeichnete sich ein vertrautes Bild der vorgetäuschten Betroffenheit ab.
Es war aber nur ein Fetzen aus Heuchelei und Lustbarkeit, kein Bild wirklicher Trauer, echten Mitgefühls. Psychologen meinen, dass das Gaffen der Stabilisierung des eigenen Ichs helfe. Der Gaffer werde sich bewusst, dass es anderen schlechter geht als ihm. Mit dieser Erkenntnis und dem Umstand der Hilflosigkeit ließ sie sich fallen. Der Duft des Lebens, den sie so sehr liebte, war ein bitterer Geruch geworden.

 
Kontakt zum Autor:  imaco@bluewin.ch

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