Delirius
ist ein dicker schwarzer Kater aus Eintopf, einem kleinen stillen
Örtchen im Schmalhansischen. Dort, inmitten der Schmalhansischen
Bergwelt, ist er als Hofpolizist bei Bauer Buckel angestellt, mit
geregelter Arbeitszeit, festem Einkommen, Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall sowie vier Wochen Urlaub im Jahr. Aber Ratten und Mäuse
jagt Delirius schon lange nicht mehr. Sie sind ihm egal, seitdem er auf
der Landstraße – direkt vor der Hofeinfahrt – zum ersten Mal einen
überfahrenen Hasen aufgelesen hat. Seitdem sind ihm Ratten und Mäuse
egal, denn fast jeden Tag liegt ein Braten auf dem Asphalt, vom Hasen,
von Igel, Dachs oder Marder. Sie alle eint eines: Sie sind Opfer des
Bewegungswahns, der auch vor dem Schmalhansischen nicht halt macht.
Deshalb ist es auch mit der Ruhe in Eintopf vorbei. Die Landstraße führt
durchs Dorf, sie schneidet es in zwei gleichgroße Teile. Das einst
kleine stille Örtchen ist ein kleines lautes geworden. Tag und Nacht,
Stoßstange an Stoßstange, wälzen sich Autos über die Teerschlange, hin
und her, her und hin...
Der dicke schwarze Kater ist der einzige in Eintopf, der das zu schätzen
weiß. Mit seinen gefundenen Fressen zieht er sich auf den Heuboden
zurück. Und nach jeder Mahlzeit fällt er auf den Rücken und furzt. Das
ist die Zeit, da selbst Bäumchen, Bauer Buckels Erstgeborene, einen
großen Bogen um ihren Spielgefährten macht.
Nach dem Verdauungsschläfchen gibt es für Delirius kein Halten mehr.
Dann wird er unruhig, immer unruhiger und nervöser, dann streckt er
seine Nase in alle Richtungen und schnuppert. Der Kater strebt über den
Hof, zum Bauernhaus, zu seinem Trinknapf. Was zuerst nach Bier und
Schnaps gerochen hat, stellt sich als gewöhnliches Wasser heraus,
nichts, was Durst und Unruhe löschen könnte. Von Bauer Buckel bekommt
Delirus keinen Alkohol mehr. Eine Zeit lang hatte er ihn betrunken
gemacht, zur Belustigung, als Spaß für die ganze Familie. Es wurde
gelacht und gescherzt, auch mal ein Bein gestellt oder ein Tritt verpaßt.
Aus jener Zeit stammt auch der Name Delirius.
Nach und nach nutzte die Freude an dem betrunkenen Kater ab, und
plötzlich, von einem Tag auf den andern, mußte dieser andere Quellen
suchen. Eine fand er mitten in Eintopf. Sie gehört einem
Schicksalsgenossen, dem Malermeister Nasennetzer. Der Maler ist
Junggeselle. Er ist weder zu alt, zu arm oder zu häßlich für eine Frau,
für eine Familie mit ein, zwei Kindern. Doch Spotthold Nasennetzer will
es anders. Er will weder Frau noch Kinder, sondern Alkohol. Immer, wenn
Delirius in die Werkstatt kommt, liegt Meister Einfalt, wie er weit
übers Dorf hinaus genannt wird, zwischen Farbeimern und Tapeten und
schnarcht. Dann steckt der Kater seine Nase in alle möglichen Töpfe,
dann atmet er tief durch, so tief, daß es nicht lange dauert, bis er
neben dem Nasennetzer auf dem Rücken liegt und schnarcht.
Dieses Schauspiel wiederholt sich jeden Tag, von Montag bis Freitag. Am
Wochenende aber bleibt die Werkstatt geschlossen, am Wochenende säuft
Meister Einfalt außer Haus. Freitagabends besteigt er seinen Malerwagen
und rollt ins Tal hinunter, in die Kreisstadt Kotzburg. Dort ist der
Nasennetzer zwar kein Unbekannter mehr, aber dort hat er kein Hausverbot
wie im „Tellerlecker“, dem Eintopfer Dorfkrug.
An den Wochenenden ist Delirius auf Schürzchen Scheelsucht angewiesen,
auf ein Großmütterchen, das in der einzigen Mietskaserne, am Dorfrand,
verfault. Ihre einzigen Brücken zur Außenwelt bilden ihr Türspion und
Fenster. Dort hat sie auch den dicken schwarzen Kater kennengelernt. Am
Wochenende gehen die beiden ihrem Hobby nach: dem Saufen bis zum
Umfallen, bis zur Besinnungslosigkeit.
So geht das einige Zeit, so läßt es sich leben: Die Straße beliefert
Delirius mit Hasenaas, Maler Nasennetzer wartet mit Lösungsmitteln auf,
und Oma Scheelsucht mit Bier und Eierlikör. Doch mit einem Mal ist alles
anders, auf einmal scheint die Welt wie ausgewechselt. An einem heißen
Sommertag, die Sonne höhnt vom Himmel, jagt Bauer Buckel den Kater vom
Hof. Er jagt ihn auf die Straße, auf jene Asphaltader, die aus dem
Nichts kommt und die ins Nichts führt. Delirius kommt zuerst bei Meister
Einfalt unter. Doch schon naht der Tag, an dem dieser nicht aus dem
Wochenende, aus Kotzburg zurückkommt. Kurz darauf kommen Arbeiter und
räumen die Werkstatt aus. Die Eimer und Töpfe mit den Lösungsmitteln
landen zuerst auf einem Anhänger, dann in der Müllverbrennungsanlage in
Kotzburg. Wieder steht der Kater auf der Straße, er steht auf jener
Straße, die aus dem Nichts kommt und ins Nichts führt. Schürzchen
Scheelsucht nimmt ihn zu sich, Schürzchen Scheelsucht nimmt ihn bei sich
auf. Delirius begleitet sie vom Fenster zum Türspion, vom Türspion zum
Fenster und wieder zurück. Er folgt ihr auf dem Fuße, er folgt ihr und
ihren Selbstgesprächen über die Müllberge hinweg, über Abfallhaufen,
dessen Kämme in den Zimmern mitunter bis zu den Decken hinaufreichen.
Plötzlich und unerwartet und doch schon lange erwartet, passiert es:
Schürzchen Scheelsucht wagt sich aus ihrer Deckung, aus ihrer Wohnung
heraus. Sie wagt sich auf die Straße, die aus dem Nichts kommt und ins
Nichts führt. Der dicke schwarze Kater weicht ihr nicht von der Seite.
Die Alte duckt sich unter den verwunderten, unter den Glotzaugen ihrer
Nachbarn, sie duckt sich unter Augen, von denen sie viele noch nie
gesehen haben.
Später wird es im Dorfkrug, im „Tellerlecker“ heißen, die Hexe und ihr
Kater seien unterwegs gewesen. Es wird keine Zweifel darüber geben, wer
sich unter dem Fell des Vierbeiners verbirgt: der Antichrist, der
leibhaftige Satan. Bald ist die Kirche erreicht, die Kirche und der
Kirchhof. Er liegt wie eine Schlinge um das Gotteshaus herum. Die
Scheelsucht strebt geradewegs auf ein Grab zu, auf einen Erdflecken und
einen Stein, der den Namen Scheelsucht trägt, Schwartwart Scheelsucht.
Dann steht da noch „vermißt“, eingemeißelt und vergoldet, in
Frakturschrift, kein Todesdatum, nur „vermißt“. Die Lebensmüde legt sich
auf das leere Grab ihres Gatten, sie legt sich in die Arme einer milden
Septembersonne, faltet die Hände auf der Brust und stirbt. Der dicke
schwarze Kater ergibt sich in sein Schicksal. Er hockt sich neben seine
Freundin, neben seine Beschützerin und hofft, daß ihn der Tod, wenn er
schon in seiner Nähe ist, nicht vergißt. Doch da läuft Bäumchen ihrer
Wege, Bauer Buckels Erstgeborene. Sie wirft einen Blick über die
Friedhofsmauer, einen flüchtigen Blick, und siehe da, sie sieht einen
dicken schwarzen Kater neben einer Frau im Sonnenbad. Sie erkennt
Delirius sofort, ihren liebsten Spielgefährten, der sich Vaters Aussage
zufolge zu weit auf die Straße gewagt habe, auf jene Straße, die aus dem
Nichts kommt und die ins Nichts führt. ‚Da wird sich Vater aber freuen’,
freut sich Bäumchen, ‚darüber, daß er sich geirrt hat.’
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