Mozart Gott erhalte Wahre Liebe Der Zwei-Uhr-Tote
Der Geburtstag Kleine Hände    
 
 

KLEINE HÄNDE


Ein Schuljahr geht zu Ende zu, und wie immer steht für einen Jahrgang im Gymnasium als Abschluss die so genannte mündliche Reifeprüfung, auch Abitur genannt, auf dem Programm. Ich bin Mitglied der Prüfungskommission, in der sich mehrere Fachkollegen, der Direktor der Schule und der vom Stadtschulrat beauftragte Inspektor befinden. Die Prüfungen haben eben begonnen, die Kandidaten schwanken zwischen Nervosität und Sebstsicherheit. Die Prüfung läuft stets nach einem perfekt eingefahrenen Ritual ab. So auch heute.

Ich sitze etwas abseits, meine Kandidaten kommen erst später an die Reihe, höre mit halbem Ohr einem Prüfling zu, als sich die Tür des Prüfungsraumes lautlos öffnet und die Sekretärin erscheint. Nur sie darf den Raum betreten, vor dem Raum hält der Schulwart Wache, und sollte ein Kandidat auf die Toilette gehen müssen, so wird er von einem Lehrer begleitet um etwaigen Absichten des Schwindelns entgegen zu treten.

Ich wende mich zur Sekretärin, und sie gibt mir mit Handzeichen zu verstehen, zu ihr zu kommen. Gesprochen darf im Prüfungszimmer nicht werden, das könnte die Prüflinge stören. Ich nehme mit dem Vorsitzenden Blickkontakt auf deute auf die Sekretärin und dann auf mich, und mache ebenfalls Handzeichen, die ein Verlassen des Raumes signalisieren.

Er ist mit meinem Vorhaben einverstanden und nickt mir zu.

„Was gibt es Wichtiges“, frage ich, froh den Prüfungsraum verlassen zu können, aber sie flüstert nur und ihre Stimme zittert, „du wirst am Telefon verlangt“, meine Frage von wem, beantwortet sie nicht und zieht mich den Gang entlang und die Stufen hinunter in den ersten Stock, wo sich die Direktion und das Sekretariat befinden. Dann beginnt sie plötzlich zu weinen und hält mir einen Zettel mit einer Telefonnummer hin. Ich frage nochmals, was denn geschehen sei, aber sie deutet nur auf den Zettel und sagt, „Bitte, ruf schnell an, das ist die Nummer der Feuerwehr.“

Sofort beginne ich an ein Unglück zu denken. Habe ich vergessen, die Kochplatte auszuschalten, steht meine Wohnung in Vollbrand, wurde eingebrochen und hat mein Hund den Täter gebissen? Sonst fällt mir im Augenblick kein weiteres Unheil ein, und ich beginne die Nummer zu wählen.

Es meldet sich eine Männerstimme: „Berufsfeuerwehr Wien, sie sprechen mit Herrn Kowatschiz, was kann ich für sie tun?“ Ich nenne meinen Namen und sofort gibt er mir Bescheid. „Gut, dass sie gleich anrufen, es geht um ihren Herrn Vater. Wir wurden verständigt, dass er am Nussbaum im Garten sitzt und nicht mehr absteigen kann.“

Sofort fällt mir sein Hobby, der Nussschnaps, ein. Er klettert doch jedes Jahr um die Zeit auf diesen Baum, um Nüsse für seinen Schnaps zu ernten. Diese werden dann in Weingeist in Fünflitergläsern angesetzt, reifen ein paar Wochen in der Sonne, wobei sie mehrfach gedreht und gewendet werden und können dann in kleine Fläschchen umgefüllt werden, um im Keller auf Regalen gelagert zu werden. Ich selbst habe zu Hause mindestens zwanzig dieser braunen Flaschen, aber ich kann das Zeug nicht trinken. Der Alkoholgehalt bewegt sich in Prozentsätzen, der nach dem Genuss zu schwersten Verbrennungen der Speiseröhre und der Magenschleimhaut führen muss. Ich habe meinen alten Herrn schon oft auf diese ungesunde Tatsache hingewiesen, bekam aber immer nur zur Antwort, es sei wirklich schade, dass ich nicht erkenne, was Qualität ausmache und außerdem sei das nach einer Rezeptur gemacht, die nach Familientradition in Ungarn entstanden sei, wahrscheinlich bereits zu Zeiten des Herrschers Attila oder vielleicht war es auch Arpad. Genau ließe sich das heute nicht mehr sagen.

Meine Gedanken werden jedoch von Herrn Kowatschiz jäh unterbrochen: „Wir konnten ihren Vater mit Hilfe der Drehleiter und der Unterstützung von zwei jungen Feuerwehrschülern zwar bergen, dennoch gab es bei dem Einsatz ein Problem, denn ihr Herr Vater war nicht mehr bei Bewusstsein und wir mussten die Rettung verständigen. Nachdem die Rettung da war, wurde ihr Vater in das nahe gelegene Spital in Lainz transportiert und sie sollen dort anrufen. Unsere Aufgabe war mit der Bergung beendet, und die nächsten Einsätze warten schon auf uns. Ich habe nur noch ihren Anruf abgewartet.“

„Wie sind sie denn zu meiner Telefonnummer gekommen?“ frage ich.
„Nun, ihre Mutter steht neben mir, das war daher sehr einfach.“

Ich bin verblüfft und glaube mich verhört zu haben, denn meine Eltern sind seit gut zwanzig Jahren geschieden. Ich hatte lange Zeit mit meinem Vater keinen Kontakt, wir trafen einander zuletzt bei Gericht im Zuge einer Unterhaltsklage. Ich hatte ihn geklagt, nachdem er mir keinen Unterhalt bezahlte, sein Anwalt die Auffassung vertrat, dass mein Studium ein Hobby meinerseits sei, mein Vater habe mich finanziell bis zur Reifeprüfung unterstützt und danach könne ich auf eigenen Füßen stehen. Der Richter schloss sich dieser Argumentation an, ich verlor den Prozess, musste für Gerichtskosten, Anwaltskosten und andere Bürokosten aufkommen und sah meinen Vater erst viele Jahre später wieder, dann allerdings auf seinem Sterbebett.

„Und was hat der Arzt gesagt?“
„Sie sollen im Spital anrufen, es schaut nicht gut aus.“
„Geben sie mir meine Mutter, bitte.“
Ich höre nur ein Schluchzen und dann eine zitternde Stimme: „Komm schnell, er wird sterben.“

Ich weiß nicht, was ich sagen soll und lege auf. Die Sekretärin schaut mich aus verweinten Augen an, ich habe schon vorher mit deiner Mutter gesprochen, aber ich konnte es dir nicht sagen.

„Ich kann nicht weg von hier, ich habe oben meine Kandidaten, ich muss warten, bis alle fertig sind, vielleicht kann ich Nachmittag früher wegkommen.“

„Aber was machst du, wenn er früher stirbt“, meint sie. Ich weiß darauf keine Antwort.

Ich gehe wieder hinauf in den Prüfungsraum, Direktor und Vorsitzender schauen mich fragend an. Ich flüstere nur, dass ich es später erkläre.

Meine Kandidaten, ein Mädchen und ein Bursche, beantworten souverän die gestellten Fragen, ich unterbreche sie dabei nicht und auch von Seiten des Vorsitzes kommt keine Zwischenfrage.

Dann ist die Prüfung vorbei, man geht in die Mittagspause und ich kann mich verabschieden, nachdem ich kurz meine Gründe genannt habe.

„Viel Glück und alles Gute für ihren Vater“, den sie gar nicht kennen, wünschen sie mir und auch der Vorsitzende wünscht mir, gerade noch wie eben den Schülern, viel Erfolg, „ich kenne das Spital in Lainz, sie haben gute Leute dort“. Ich erinnere mich gehört zu haben, dass Lainz auch die Sterbeklinik Wiens genannt wurde. Doch nun, nichts wie weg. Vom ersten Bezirk nach Lainz geht es mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht so rasch und so dauerte es eine gute Stunde.

Bei der Rezeption erkundige ich mich nach der Station, in die mein Vater gebracht wurde, irre eine Zeitlang auf den Wegen zwischen den Stationen, ehe ich fündig werde. Eine Krankenschwester hält mich auf, führt mich dann aber an etlichen Krankenzimmern vorbei zur Oberschwester.

Ihr Verhalten bedarf keiner weiteren Erklärung. Ich sage mir, dass ich zu spät gekommen sein muss. Sehr gefühlvoll erklärt sie mir, dass sein Zustand sehr kritisch sei, die Ärzte konstatierten ein Aneurysma mit nachfolgender Ruptur der Hauptschlagader, eine Operation sei unmöglich, er werde sterben, er sei schon nicht mehr bei Bewusstsein.

Ob ich ihn noch sehen könne - und sie nimmt mich an der Hand, führt mich über den Gang, öffnet verstohlen eine Tür, und wir befinden uns in der Wäschekammer der Abteilung. In der Mitte des Raumes das Krankenbett meines Vaters, und mein erster Eindruck „das ist nicht mein Vater“. Die Schwester fügt noch hinzu, man könne von ärztlicher Seite nichts mehr für ihn tun, er leide jedoch keine Schmerzen, es sei vielmehr ein langsames Hinübergleiten und ich könne hier bleiben bis zu seinem Tode. Wenn ich etwas wolle, möge ich nur ins Schwesternzimmer kommen, sie werde jedoch ohnehin ständig vorbei sehen. Damit stellt sie mir einen Sessel ans Bett und meint: „Nehmen sie ruhig seine Hand, das wird ihn und sie beruhigen.“ Dann geht sie leise hinaus.

„Hier bin ich, mein Vater“ , ist alles, was mir im Augenblick einfällt.
Ich erkenne nun doch seine Gesichtszüge, die ausgeprägten Falten auf der Stirn und die eingefallenen Wangen. Seine Zahnprothesen hat man ihm bereits entfernt, sodass sein Mund eine Öffnung bildet, die an schnarchende Männer erinnert. Die Ohren auffallend weiß, er dürfte sich seit drei Tagen nicht mehr rasiert haben und auch aus der Nase rage ein paar weiße Haare. Er, der niemals krank sein wollte, der dem Alter davon zu laufen versuchte, liegt nun hier ausgestreckt vor mir, zugedeckt mit einer Bettdecke auf der „Stadt Wien Lainz“ am unteren Ende eingewebt steht. Warum das? Hat man Angst um die Decke? Und gleichzeitig mit dem Erkennen der Schrift, frage ich mich, wie viele Sterbende bereits unter dieser Decke lagen. Der Geruch nach scharfen Waschmitteln erfüllt das Zimmerchen, und nach kurzer Zeit rinnen meine Augen. Ich suche vergeblich ein Fenster. Es ist ein toter Raum, und wer vom Personal auf die Idee kam, hier Sterbende unter zubringen, hatte sicher vorher hier nie die Luft geatmet. Lange konnte hier niemand überleben.

Vater wollte immer ein Held sein. Jetzt konnte ich, der ich immer Angst vor seinen Erziehungsmaßnahmen hatte, nichts Heldenhaftes in seinem Gesicht erkennen und fühlte mich plötzlich ihm überlegen. Jetzt konnte er mir keine Angst mehr machen, er würde nie mehr sagen können „Was habe ich da nur gezeugt? Der kann rein gar nichts! Dabei habe ich ihm doch so viele Talente mitgegeben und er fängt damit nichts an.“

Ja, und jetzt war er 80 Jahre alt geworden. Ich war 40 und hörte in Gesellschaft sehr oft die Bemerkung: „Er ist die Hälfte von mir und mehr als das wird er wohl nie werden.“

War das sein ungarisches Blut, auf das er immer pochte, dass ihm ein feuriges Temperament in die Adern pumpte? Wusste er jemals, wie er mich damit verletzte? Und wieso lachten Umstehende stets über diese Bemerkung?

Es ist ein Sonntag im Frühjahr des Jahres 1950 und ich begleite meinen Vater auf den WAC-Platz, eine Sportstätte im Prater. Mein Vater ist Kapitän einer Handballmannschaft und heute findet ein wichtiges Spiel statt; es geht um die Tabellenführung. Kurz vor dem Platz treffen schon mehrere Spieler zusammen und auch bei ihnen sind einzelne Kinder mitgekommen. Wir Buben kennen uns auch schon lange, sind wir doch jedes Wochenende mit dabei. Die Männer begeben sich zu den Garderoben, ziehen ihre Dressen an und wir warten einstweilen auf dem Sportplatz. Dann kommen sie und wärmen sich vor dem Spiel auf, indem sie laufen, hüpfen , verschiedene Verrenkungen und Dehnungen machen und natürlich den Tormann mit Schüssen aus allen Richtungen eindecken. Viele Schüsse verfehlen jedoch das Tor oder werden vom Tormann abgewehrt, und dann beginnt unsere Aufgabe. Wir laufen den weit hinter dem Tor liegenden Bällen nach und bringen sie den Spielern zurück. Sofort wird wieder der Tormann geprüft, und wir sind wieder am Laufen.

Dann beginnt das Spiel und wir Kinder teilen uns nach Zughörigkeit unserer Väter hinter dem entsprechenden Tor der Mannschaft auf. Hier unterstützen wir den Tormann, er braucht sich niemals auf die Suche nach verschossenen Bällen zu machen, das erledigen wir. In der Pause dürfen wir dann auch auf das Spielfeld und mit den Bällen unsere Geschicklichkeit testen. Es gibt unter uns verschiedene Lebensalter und manch einer kann bereits den Handball mit einer Hand halten, hochziehen und sehr gezielt schießen. Meine Hände sind noch zu klein, ich kann den Ball nur mit beiden Händen halten und versuche ich ihn zu werfen, gleitet er mir regelmäßig aus den Händen, so kommt nie ein Schuss zustande, es ist nur ein Werfen. Nach Spielende gehen die Männer beider Mannschaften noch in die Kantine auf ein, oder zwei Bier und unsere Dienste werden mit Limonade abgegolten. Die Mannschaft meines Vaters hat knapp, aber wie die Spieler sagen, verdient gewonnen. Daher ist er bester Laune.

„Wie hat es dir gefallen, hast du was gelernt dabei“? Ich nicke nur, denn was ich dabei lernen sollte, war mir nicht klar.
„Wenn es dir gefällt, in der Knabenmannschaft suchen sie immer Spieler mit Talent, das du ja zum Glück von mir mitbekommen wirst. Ich werde dich dem Trainer vorstellen“. Der Trainer kam gerade vorbei, er rief ihn zu sich und sagte: “Schau ihn dir einmal an, vielleicht wird einmal was aus ihm“.

Der Trainer kam zu mir und sagte : “Bist du Rechtshänder, so leg mir die rechte Hand hierher“, und wies auf seine rechte, offene Handfläche und meinte danach zu meinem Vater: “Elemer, das braucht Zeit mit ihm, er hat noch zu kleine Hände.“

„Hab ich mir auch schon gedacht“, gab mein Vater zur Antwort, „aber wir brauchen ohnehin immer Ballbuben, das kann er auch mit beiden Händen machen.

Als mir dieses Bild durch den Kopf geht, lege ich meine Hand in die Hand meines Vaters, und immer noch ist sie mindestens um ein Drittel kleiner als seine und ich kann auch heute noch immer nicht einen Handball mit einer Hand halten, so fest ich auch meine Finger spreize.

Eine Krankenschwester betritt den kleinen Raum, sie hüstelt verlegen, nur um sich bemerkbar zu machen, tritt an das Bett heran, ich ziehe meine Hand aus der meines Vaters, denn sie will seinen Pulsschlag fühlen, ich stehe auf und denke, sie will allein ihre Arbeit verrichten, aber sie schüttelt nur verneinend den Kopf. Aus dem Regal mit den Leintücher, korrekter sollte es Leichentücher heißen, zieht sie drei oder vier Tücher heraus und gleichzeitig damit wird eine neue Duftwolke dieser in den Großreinigungsanstalten verwendeten Reinigungsmittel freigesetzt. Das ist kein Duft, das riecht scharf und brennt in den Augen. Aber ich denke, er kann es ohnehin nicht mehr riechen. Seit ich bei ihm bin, ist sein Unterkiefer langsam immer weiter nach unten abgeglitten, sein Mund öffnet sich mehr und mehr, aber es kommen keine rasselnden Töne heraus. Er, der früher so laut schnarchen konnte, dass man ihn durch drei geschlossene Räume gehört hatte, liegt nun ganz stumm, nicht einmal sein Brustkorb hebt sich und zeigt an, dass noch Leben in ihm ist.

Ich sehe auf meine Uhr, es ist fünf Uhr nachmittags, ich bin also erst seit zwei Stunden hier, habe jedoch den Eindruck schon viel mehr Zeit hier verbracht zu haben. Ich setze mich wieder auf den Sessel und sage, nur die Lippen bewegend, zu ihm, „Hast du Schmerzen? Leidest du? Sag doch irgend etwas, sag zumindest, dass es dir leid tut.“

Plötzlich hebt sich die Decke und er atmet röchelnd, ich sehe er will sprechen. Weiß er, wer neben ihm sitzt, hat er meine Gedanken gelesen, will er antworten? Aber schon ist die Bewegung wieder zu Ende, sein Mund würgt Laute hervor, ich verstehe absolut nichts, es sind keine Worte, nur Geräusche.

Mein Vater spielte Violine, er übte nie und ich brauchte lange, ehe ich begriff, dass er keine Noten lesen konnte, aber er verfügte über ein ausgezeichnetes Gehör, konnte eine Melodie, die er gehört hatte, beinahe fehlerfrei nachspielen, eine Fähigkeit, die er mir leider nicht vererbt hatte. Da wir zu Hause auch ein Klavier hatten, sollte ich sein Partner werden.

Es begann wie üblich: Weihnachtslieder, Klavier mit Violine, dann Volkslieder, dann kleine Studien großer Meister, einfach gesetzt, ich am Klavier mit den Noten, ich musste die Melodie vorspielen, danach begleitete er mich auf der Violine. Und dann gestand er mir, dass er keine Noten lesen könne, aber als Ungar, habe er das Talent bereits in die Wiege gelegt bekommen. Hätte man ihn in seiner Jugend nur mehr Zeit zum Üben gegeben, würde er heute sicherlich in einem Orchester sitzen und ich dachte bei mir, warum sagt er nicht gleich, sicher die erste Geige spielen.

Meine Fortschritte im Klavierspielen stellten sich durch das Übungspensum ein, die Schwierigkeitsstufe der Etüden wurde erhöht und damit kamen auch die Probleme. Meine Lehrerin sah oft betroffen auf meine Hände, seufzte dann hörbar und meinte, „Warum nur hast du so kurze Finger?“

Tatsächlich hatte ich Schwierigkeiten mit den Oktavgriffen und sehr oft schlichen sich Fehler ein. Aber das Spiel machte mir Freude, ein Durchbruch war jedoch nicht zu erwarten. Sollte ich vielleicht auf die Blockflöte umsteigen? War es doch schon Pan gelungen, mit ihrem Ton, die Welt zu begeistern.

Doch es sollte nicht die Blockflöte werden, sondern ein anderes Blasinstrument. Wir hatten im Gymnasium einen Musiklehrer der mit aller Gewalt ein eigenes Orchester gründen wollte. Und da ihm noch ein paar Bläser fehlten, redete er mir ein solches Instrument ein. Natürlich war eine Aufnahmeprüfung nötig, die im am Klavier abzulegen hatte. Sollte ich diese bestehen, dürfte ich Klarinette lernen. Das hatte man mir versprochen. Die Prüfung kam und ich war furchtbar aufgeregt.

„Was haben sie gewählt, was hören wir von ihnen?“, wurde ich gefragt.

Mit krächzender Stimme flüsterte ich nur, „Mozart“, nahm Platz am Klavier und begann zu spielen. Ich hatte noch nicht einmal zwanzig Takte gespielt, da hieß es, „das genügt.“

Durchgefallen, dachte ich bei mir, jedoch unser Musiklehrer gehörte dieser Prüfungskommission an, kam zu mir, gratulierte mir und sagte:
“Du hast es geschafft, aber mit Klarinette wird es nichts, es gibt schon zu viele Schüler, aber was wäre es mit Oboe, da gibt es einen freien Platz, und ihr Ton ist ohnehin viel angenehmer und näselnder.“

Ich hatte keine Ahnung von der Verschiedenheit der Klangfarbe und der Spieltechnik der beiden Instrumente und sagte sofort zu. Der Weg zur Hölle war geöffnet.

Ich hatte meinen Eltern nicht gesagt, dass ich mich um eine Aufnahme ins Konservatorium beworben hatte, denn ich dachte, sollte ich nicht genommen werden, erspare ich mir ihre Kommentare. Jetzt aber war ich stolz, dass ich es geschafft hatte, aber an Stelle von Lob, bekam ich zu hören:

„Hast du dir denn das überhaupt überlegt, man kann doch nicht gleichzeitig aufs Konservatorium gehen um Berufsmusiker zu werden und die Schule nur so nebenbei besuchen! Weißt du denn nicht, was gescheiter im Leben ist. Eine abgeschlossene Schulausbildung mit Matura, oder ein gescheiterter Musikant?“

Der Lehrer für Oboe war ein sehr gutherziger Mensch. Ich bekam vom Konservatorium ein Leihinstrument und die erste Aufgabe bestand darin, das für die Oboe benötigte Doppelrohrblatt zu behandeln, es vorsichtig zu hobeln, es nicht einreißen zu lassen. Dann der Ansatz des Instrumentes, das Blatt im Mund, die Lippen über die Zähne eingezogen und der Versuch einen Ton zu erzeugen. Die so intelligenten Sprüche, dass aller Anfang schwer sei, bestätigten sich auch hier.

Ich übte besessen und ausdauernd, hatte jedoch nicht mit dem Unverständnis meiner Familie gerechnet. Nicht einmal wurde ich aufgefordert doch in einem anderen Zimmer zu üben, man könne ja nicht Radio hören. Im Vorzimmer wäre ich weit genug entfernt. Wenig später war es jedoch auch mit dem Vorzimmer zu Ende, es kamen Klagen von Nachbarn und anderen Hausbewohnern, und auch die Bemerkung für das Konservatorium müsse man eben üben, half nicht, es blieb mir nur eine Stunde Übungszeit gestattet. War die Stunde vorüber und ich achtete nicht auf die Zeit, wurde ich durch Klopfgeräusche an der Wand oder durch Klingeln an der Wohnungstüre an das Ende der Übungszeit sehr deutlich erinnert.

Beim Spiel auf der Oboe werden von den Fingern viele Spreizgriffe verlangt, wie beim Klavierspiel fürchtete ich diese Griffe und kam ich auch hier bald in Schwierigkeiten. Der Lehrer war wirklich sehr nett, er besah meine Hände, und führte meine schwache Leistung auf mangelndes Üben zurück.

Nach zwei weiteren Monaten dann das entscheidende Urteil: „Dein Übungspensum ist nicht ausreichend und außerdem hast du zu kleine Hände. Besser, du haust den Hut drauf, denn so kommen wir nicht weiter.“

Ich hatte Tränen in den Augen und verabschiedete mich für immer vom Konservatorium.

Hatte ich gedacht, zu Hause wäre man froh über meinen Abschied vom Konservatorium, so irrte ich mich abermals. Mein Vater spottete nur und meinte, jetzt könne ich mich endlich voll auf den Schulabschluss konzentrieren, denn ewig werde er mich nicht durchfüttern, nur um meine Hobbys zu unterstützen.

In meinem Zorn hielt ich ihm meine Hände entgegen und schrie ihn an: „Da schau her, was du mir vererbt hast,andere haben lange Finger und meine sind für alles zu kurz“.

Er schaute mich an, verzog dann das Gesicht und meinte: „Ich?“ meinst du wirklich mich, oder hast du schon einmal nachgedacht, wie deine Mutter mit ihrem ledigen Namen geheißen hat? Klein hat sie geheißen und alles an ihr stimmt mit dem Namen überein! Schau, wie groß sie ist, knapp über einen Meter fünfzig, nicht mehr, sie musst du fragen, nicht mich, von ihr hast du deine Hände geerbt.“

Tatsächlich, und das war für mich schon merkwürdig, hatten meine beiden Schwestern, ich bin geneigt zu sagen, normal große Hände, schlanke, gerade lange Finger; nur ich hatte kurze und krumme Finger.

Er drehte sich auf der Stelle um und bevor er den Raum verließ knurrte er noch:
„Ich hoffe, du schaffst die Schule, denn jetzt ist Schluss mit meiner Güte!“

Ich schloss die Schule mit der Reifeprüfung ab, und im Herbst des Jahres ließen sich meine Eltern scheiden.

Es ist das Jahr 1963, das meine bisherige Welt in eine neue Richtung lenkte. Ich hatte ein Sportstudium begonnen und verbrachte die Wintermonate als Schilehrer. Das verlangte die Ausbildung und es war eine wunderschöne Zeit. Jede Woche bekam man eine neue Gruppe von Touristen, die das Schifahren erlernen wollten, zugeteilt. Ich lernte viele Menschen kennen und auch viele verschiedene Charaktere.

Und da war Luise.
Luise kam aus Wien, hatte ihren Weihnachtsurlaub gemeinsam mit einer Freundin hier gebucht und war versessen darauf, Schifahren zu erlernen. Als Schilehrer lernst du sehr schnell, wie du dich deinen Kunden gegenüber zu verhalten hast. Nicht das Klischee des testosterongesteuerten Machos wird verlangt, sondern der zuvorkommende stets hilfsbereite und immer lobende Typ ist gesucht. Und ein gewinnendes Lächeln, das, wie ich rasch bemerkte, eher reifere weibliche Jahrgänge ansprach.

Es gehört zu den Aufgaben eines Schilehrers, das verlangt der Chef des örtlichen Tourismusverbandes, mit seinen Schülern den sogenannten 5 Uhr Tee zu besuchen, oder dann am Abend die diversen Veranstaltungen in den Discokellern. Nachdem ich bereits mit etlichen Damen meines Kurses die Pflichttänze absolviert hatte, bat ich Luise zum Tanz. Sie lächelte höflich und meinte, vielleicht später, jetzt habe sie keine Lust. Sie sah mir dabei in die Augen, aber was waren das für Augen? In mir zuckte es, ich spürte, dass ich errötete, wollte mich über meine Regung ärgern, da ergriff sie meine Hand. Welche Wärme war das? Was floss da in mich, warum zitterte meine Hand? Die Band spielte wie immer viel zu laut, und ich hörte nur: „Vielleicht später“, und ihre Hand blieb auf meiner liegen.

Dann wandte sie sich ihrer Bekannten zu, und ich forderte eine weitere Damen aus der Gruppe zum Tanzen auf.

Es ist kurz vor Mitternacht, als ich mich von meiner Gruppe mit der verschmitzten Bemerkung, ich müsse ja morgen fit für die Arbeit sein, verabschiedete. Ich holte meine Jacke aus der Garderobe und stieß mit Luise zusammen. Sie hatte bereits ihre Daunenjacke an und stotternd fragte ich sie:
„Hat es dir hier nicht gefallen“
„Doch, doch,“ antwortete sie, „gehst du auch schon?“
Sie hängte sich bei mir ein und wir verließen das Lokal.
„Und jetzt, wohin?“
„Du begleitest mich nach Hause“, bekam ich zur Antwort.

Im Hotel wohnte sie im zweiten Stock in einem Doppelzimmer.
„Magst du etwas trinken?“ Ich schüttelte verneinend den Kopf und starrte sie an. Sie hatte ihre Daunenjacke abgelegt, suchte sich im Eiskasten eine Flasche Campari und sagte lachend:
„Keine Angst, du wirst nicht gebissen“.

Sie schenkte sich ein Glas ein, ich stand nur verlegen grinsend im Zimmer. Sie nahm einen Schluck Campari, trat auf mich zu, ich spürte ihre Wärme, aber das war keine Wärme, das war wie eine Betäubungsinjektion, ich war unfähig zu sprechen. Lange danach klopfte es an der Tür, Luise stand auf, öffnete die Türe einen Spalt und ich hörte sie flüstern, dann ein kurzes Lachen und sie kam zurück ins Bett.

„Die Arme, sie ist meine beste Freundin, sie geht nochmals zurück in die Disco, wir können noch einen Abschiedswalzer drehen.“

Die Woche war verloren, ich unterrichtete nur mit halber Konzentration, hatte Augen nur für Luise und fürchtete den Samstag, den Tag des Kurswechsels. Was hatten wir nicht alles in diesen vier Tagen erlebt? Was hatten wir nicht alles besprochen, niemals zuvor hatte ich meinen Körper so erlebt, wir stellten keine Forderungen, keine Fragen, wir waren nur ineinander versunken.

„Wenn du willst, können wir uns in Wien treffen,“ und dann war sie weg.

Bis Ostern verblieben noch vier Wochen, dann war Saisonschluss und ich fuhr nach Wien zurück. Diese vier Wochen zogen sich wie ein Jahr - und zurück in Wien - wagte ich nicht die von mir sorgsam gehütete Telefonnummer anzurufen.

Was wusste ich schon von ihr? Für sie war es eine schöne Urlaubswoche, was war ich für sie? Ein zum Schiurlaub gehörender Service? Nach einer Woche Wartezeit war ich so weit und rief sie an. Lachend sagte sie: Das ist ja ein kleines Wunder, der Herr Schilehrer erinnert sich einer Urlaubsbekanntschaft!“

Die Treffen die diesem Gespräch folgten, überstiegen alles, was ich jemals über Sex, Liebe oder Zuneigung gelesen und gehört hatte. Meine bisherige Freundin erschien mir plötzlich ungemein langweilig, ihre Gespräche ohne Bedeutung und Wert, ihr Körper, den ich bislang als so wunderbar betrachtet hatte, ohne jegliche Ausstrahlung, und bald danach trennten sich unsere Wege.

Ich schaue auf die Uhr. Es ist 19 Uhr und er lebt immer noch. Ich kann nicht erkennen ob er atmet, aus seinem Mund kommen keine Geräusche mehr. Vor kurzer Zeit kam wieder eine Schwester ins Zimmer. Sie ist älter als die vorherige, sie misst seinen Blutdruck, hebt die Decke etwas hoch, blickt darunter, ein unangenehmer Uringeruch steigt mir in die Nase, sie richtet den Kopfpolster zupft das Leintuch zurecht, alles Handgriffe, die sie routinemäßig erledigt.

„Sie sollten sich etwas bewegen, nicht hier eingesperrt sitzen bleiben, wir haben ihren Vater unter Kontrolle, gehen sie ein wenig auf den Gang hinaus.“

Ich befolge ihre Anweisung, betrete den Gang und bin im ersten Augenblick vom Licht geblendet. Es ist noch Tag, und Sonnenlicht dringt durch die Fenster. Gibt es einen deutlicheren Vergleich zwischen Tag und Nacht, zwischen Leben und Tod? Hier das zur Neige gehende Sonnenlicht, dort das verblassende Leben.

Geht so dein Leben zu Ende, frage ich mich, oder wie willst du sterben? Im Kreis deiner Familie, die fehlt dir, unter deinen Freunden, die dann sicherlich anderweitig beschäftigt sein werden? Allein im Bett? Vielleicht doch in einem Altersheim? Dort warten schon die nächsten auf ein freies Bett. Oder was stellst du dir denn vor? Denkst du dein Gehen interessiert jemand? Es wird alles weiterlaufen wie bisher, nichts und niemand wird anhalten.

Ich schaue wieder zu ihm, nehme wieder Platz auf dem Sessel, greife nach seiner Hand und trotz meines Widerwillens die Größe seiner Hand zu messen, habe ich nur sie im Blick. Seine Hand ist noch warm. Ist sie das wirklich, oder bilde ich es mir nur ein? Ich neige meinen Kopf zu seinem Mund, versuche zu hören, ob er noch atmet, kann jedoch nichts erkennen.

Muss man so die Welt verlassen? Nicht mehr existierend und doch am Leben, nur mehr ein Haufen von vergehenden Zellen, von denen einige vielleicht noch um ihr Leben kämpfen und verzweifelt, wie ein Ertrinkender nach Sauerstoff schreien und sich noch nicht zum Verlöschen bereit erklären. Es ist grausam das anzusehen. Es zuckt mir der Gedanke vom sogenannten Gnadenschuss durch den Kopf. Aber den gibt man nur leidenden Tieren und er leidet ja nicht, wurde mir erklärt. Ich sehe wieder auf die Uhr. Was will ich denn? Ich will, dass er endlich stirbt, dass es zu Ende ist! Die Zeiger der Uhr helfen mir dabei nicht. Ich nehme die Uhr ab und stecke sie in meine Hosentasche. Die Zeit hat ihren Sinn verloren.

Wir sind nun schon seit zwei Jahren zusammen, Luise und ich und ich denke sehr oft, wir sind für einander bestimmt, wir gehören zu der kleinen Gruppe von Menschen, die vom Glück ins Auge gefasst wurden. Nichts und niemand wird uns in die Quere kommen, wir stehen über all diesen Dingen.

Mein Vater war nach der Scheidung ausgezogen, es war aber ein eher schwammiges Verlassen der Wohnung, denn er behielt die Schlüssel, hatte nicht alle seine Sachen mitgenommen und kam in unregelmäßigen Abständen vorbei. Meine Mutter hatte die Liaison mit Luise nicht akzeptiert, sagte sogar einmal zu ihr, ob sie sich denn nicht schäme und das war dann auch die letzte Konversation.

Ich selbst wusste von Luise nichts, ob sie einen Mann hatte, eher nein, sagte ich mir, das geht sich zeitlich nicht aus, einen Freund, vielleicht, aber sicher nicht immer, wo sie arbeitete, nichts war mir bekannt und es war wie eine stille Abmachung, ich fragte nicht. Ich wusste nur ihr Alter, das hatte sie mir gesagt. Sie war knapp 20 Jahre älter. Was ich mit ihr kennenlernen durfte, ist mir heute noch in lebendiger Erinnerung - es hat sich in meine Ganglien eingefräst.

Körperlich arbeiteten wir das Kamasutra durch, lachten über die artistischen Verrenkungen und fühlten uns immer wohl, wir gingen in Konzerte in die Oper, wir hatten ein gesellschaftliches Leben, obwohl wir alles nur zu zweit erlebten. Und wenn wir glücklich neben einander lagen, unsere Körper fühlten, dem Takt der Herzen lauschten, fragte ich sie schon öfter, was sie eigentlich an mir liebe. Sie nahm meine Hand, führte sie zu ihrem Mund, küsste die Finger, nahm die Hand und strich über ihre Brüste, über ihren Bauch und zwischen ihre Schenkel, sagte nichts, drückte nur meine Hand in ihre und nach einer Weile meinte sie dann:
„Ich denke, es sind deine Hände. Niemals zuvor hat mich jemand so berührt, niemand mich so elektrisiert, ich bin verrückt nach deinen Händen“. Da waren meine kleinen Hände wirklich einmal zu etwas gut. Sehr gut!

Wir hatten einen schönen Nachmittag verbracht, Luise lag nackt neben mir und rauchte ihre, wie sie immer sagte, postkoitale, Zigarette, als sich plötzlich die Türe unsres Zimmer öffnete und mein Vater herein trat. Er schloss zwar sofort wieder die Türe, nur um sie im nächsten Augenblick wieder aufzureißen und laut brüllend an unser Bett zu stürmen.

„Was ist das, in meinem Haus, das dulde ich nicht, das ist kein Bordell, keine Absteige“, und mit einem Blick auf Luise, die sich inzwischen zugedeckt hatte, „und noch dazu mit einer Nutte! Verschwindet sofort, sonst geschieht noch ein Unglück!“

Ein weiteres Bild drängt sich mir auf. Ich will diesen Gedanken nicht weiter folgen, aber ich erinnere mich sehr deutlich an ein Ereignis meiner Kindheit, das völlige Ähnlichkeiten, mit dieser damaligen Situation hatte. Ich war eines Tages früher von der Schule nach Hause gekommen, meine Schwestern und meine Mutter waren in der Arbeit und mein Vater kam üblicherweise nicht vor 6 Uhr abends nach Hause. Ich betrat die Wohnung und im nächsten Augenblick erschrak ich, denn aus dem Wohnzimmer hörte ich laute Schreie:

„Nein, nein,..ja doch, nein, ja, komm doch endlich.“

Was war das? Ich schlich in Richtung zum Wohnzimmer, die Türe war offen und auf dem Fußboden lag mein Vater und raufte mit einer Frau. Er lag auf ihr und drückte sie zu Boden. Er bringt sie um, dachte ich, wagte jedoch nicht mich zu rühren. Dann war der Kampf zu Ende und ich erkannte die Frau, es war unsere Nachbarin, sie hob den Kopf, sah mich und schrie:

„Du Idiot, ich habe gewusst, es wird Probleme geben.“ Damals wusste ich nicht, welche Probleme daraus folgen sollten, aber so eine Ahnung, dass hier etwas Außergewöhnliches geschehen war, blieb mir doch erhalten.

Und weshalb fällt mir diese Angelegenheit gerade jetzt an seinem Sterbebett ein? Ich erinnere mich, meine Mutter hatte immer unter seinen Affairen gelitten, immer gab es Streit wegen Liebschaften, die mal länger mal kürzer andauerten, aber an der Tagesordnung waren. Es fällt mir deswegen ein, weil sich die Beziehung mit Luise nach seinem Überfall auf uns sehr rasch geändert hat. Sie hatte immer weniger Zeit für mich, wir gingen nicht mehr regelmäßig in Konzerte, und obwohl sie wusste, an welcher Schule ich meinen Dienst versah, kam sie mich nie mehr, so wie früher abholen. Sie wollte ihre Wohnungsschlüssel zurück, und dann kam das von mir gefürchtete Abschiedsgespräch.

Es begann schon mit der von mir so verhassten Phrase: „Ich denke, es ist vernünftiger…“. Was sollte vernünftiger sein, ich wusste es nicht, damals noch nicht und auch heute will ich es nicht wissen. Wir liebten uns nochmals, mit einer Intensität, von der wir wussten, es ist das letzte Mal, und ich wollte mit ihr sterben.

Ich stand vom Bett auf, weinte wie ein kleines Kind, sie zog mich an den Händen zu sich, streichelte meine Finger und sagte:
„Deine Hände werden mir fehlen“.

Eine weitere Krankenschwester kommt ins Zimmer, führt ihre Arbeiten durch, man kennt mich inzwischen schon und nimmt meine Anwesenheit gar nicht mehr zur Kenntnis. Im Weggehen stellt sie mir noch eine Tasse Kaffee auf einen kleinen Beistelltisch. Ich sehe sie fragend an, aber sie zuckt nur mit den Schultern. „Er hat eine starke Natur“, sagt sie, dann bin ich wieder mit ihm allein.

Ich spüre, wie meine Gedanken müde werden, ich will mich nicht mehr an alles mit ihm und von ihm erinnern. Ja es fällt mir nur Luise ein, und ich will ihn anschreien, dass er Schuld habe, dass unsere Beziehung zu Ende ging, dass er sich einmal im Leben schuldig fühlen soll, nachdem er so viele Seelen zerstört hat, und dass er jetzt endgültig gehen muss. Es ist kein Platz mehr für zynische Bemerkungen, für Verspottungen, nichts ist er mehr, nichts bleibt von ihm zurück. Ich ziehe meine Hand aus seiner großen Hand. Ich stehe auf und bewege mich zu seinem Kopf. Beide Hände umfassen seinen Hals und ich muss einsehen, sie sind auch dafür zu klein….

Es ist zwei Uhr morgens, die Nachtschwester weckt mich, ich liege vorüber geneigt am Fußende seines Bettes, ich erschrecke, ehe ich die Situation erfasse: „Es ist vorüber, er ist eingeschlafen, er ist erlöst“ flüstert sie. „Es ist besser, sie gehen jetzt; draußen wartet ihre Mutter.“

Ich schaue nochmals auf meinen Vater, das Neonlicht flackert noch immer, seine Gesichtszüge haben sich nicht verändert, er hat seine Schuld nicht eingestanden.

Ich gehe mit der Schwester über den Gang zum Wartezimmer, eine ältere Frau sitzt allein in der Ecke des Zimmers. Bei meinem Eintritt wendet sie sich mir zu. Mein Herz will stehen bleiben. Sie ist älter geworden, aber sie ist es. Und ich umarme sie - Luise.


© Jürgen Latkoczy